Ahlam Shibli احلام شبلي

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© Ahlam Shibli



Heimat

Nordhessen, Deutschland, 2016–17
Serie von 53 Fotografien, 40 × 26.7 cm; 40 × 60 cm; 60 × 40 cm; 100 × 66.7 cm; 66.7 x 100 cm, C-Prints


Heimat_1

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 1), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 100 × 66.7 cm.

Gedenkstätte und Museum Trutzhain, 13.11.2016.

Das Museum dokumentiert in einer ehemaligen Waschbaracke die Geschichte des Kriegsgefangenenlagers STALAG IX A Ziegenhain und der Heimatvertriebenen, die seit 1948 dort angesiedelt wurden. Der abgebildete Teil einer Schautafel zeigt eine Luftaufnahme des Komplexes und Fotos vom Bau der Baracken sowie eine Glühbirne und ein Stück Stacheldraht aus dem Lager. Nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurden Polen, Franzosen, Belgier, Jugoslawen und Amerikaner in dem Lager gefangen gehalten; ab 1941 auch sowjetische und serbische Gefangene, die unter grausamen Bedingungen lebten und beinahe alle ihr Leben ließen. Nach dem Krieg waren die Lagerinsassen zunächst deutsche Mitglieder von NS-Organisationen und anschließend Displaced Persons, bevor dort Vertriebene untergebracht wurden und die Gemeinde Trutzhain gegründet wurde.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_2

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 2), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Historische Weberei Egelkraut, Trutzhain, 11.03.2017.

Im Jahr 1947 gründeten Rudolf und Robert Egelkraut in einer Baracke des früheren STALAG IX A Ziegenhain eine Weberei. Sie waren Vertriebene aus dem Egerland, im Westen des heutigen Tschechiens, und produzierten zunächst Haushaltstextilien und Stoffe für die traditionelle Tracht der einheimischen Bevölkerung. Anfang der 1950er-Jahre begannen sie mit der Herstellung von aufwendigen Dekorationsstoffen, die weltweit exportiert wurden. 1953 errichteten sie das Fabrikgebäude, wo der Betrieb bis heute – immer noch mit den historischen Webstühlen – von Udo van der Kolk, einem früheren Angestellten der Eigentümer, weitergeführt wird.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_3

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 3), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Trutzhain, 26.04.2017.

1964 hat der damalige Besitzer der abgebildeten Baracke zugunsten von mehr Bequemlichkeit deren Vorderseite umgebaut. Wenngleich das gesamte ehemalige Lager denkmalgeschützt ist, haben die Besitzer ihre Häuser renoviert. Einige Baracken allerdings sind ziemlich heruntergekommen, vor allem Fabriken und Lagerräume. Im Widerspruch zum heutigen Zustand war Trutzhain dank der Kenntnisse und der Motivation der Heimatvertriebenen in den 1950er- und 1960er-Jahren ein blühender Industrie- und Handelsplatz, wo auch Menschen aus der Umgebung Arbeit fanden; zu nennen sind die Kunstblumenfabrik, die Weberei, die Sauerkraut-, Kisten- oder Fassfabrik.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 4), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Gemeindefriedhof, Trutzhain, 11.03.2017.

Zum STALAG IX A Ziegenhain gehörten zwei Friedhöfe. Der heutige Gemeindefriedhof ist die frühere Grabstätte für verstorbene westallierte und polnische Gefangene. Doch die sowjetischen und serbischen Kriegsgefangenen wurden anonym auf einem abgelegenen Gräberfeld im nahegelegenen Wald verscharrt; auch italienische Militärinternierte wurden dort begraben. Seit etwa fünfzehn Jahren werden die Grabsteine von Heimatvertriebenen an einer besonderen Gedenkstätte aufgestellt, wenn ihr Grab auf dem Gemeindefriedhof eingeebnet wird. Bedingung ist allerdings, dass auf dem Grabstein der Herkunftsort des Verstorbenen vermerkt ist.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli



Heimat_5

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 5), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Gedenkstätte und Museum Trutzhain, 16.03.2017.

2013 wurde der Film Blumen made in Trutzhain von Julia Charlotte Richter veröffentlicht. Er dokumentiert die Geschichte der Kunstblumenfabrik E. W. Lumpe & Sohn in Trutzhain, indem er die bitteren Lebensumstände der ankommenden Vertriebenen nachzeichnet, den Optimismus und Erfolg der Fabrikgründer und schließlich ihr Scheitern, als sie nicht mehr mit der globalen Produktion konkurrieren konnten. Insofern ist der Film Teil des Denkmalortes, zu dem Trutzhain geworden ist, dient aber auch dem Andenken an eine Zeit, wo Blumen aus Krepp und Seide zur Mode gehörten und bei Ritualen wie dem Begräbnis gebraucht wurden.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli



Heimat_6

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 6), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Christian Steidl und Renate Holtsche, Kunstblumenfabrik Lumpe, Trutzhain, 16.03.2017.

Renate Holtsche wurde in der Nähe von Trutzhain geboren und zog 1949 mit ihrer Familie, Heimatvertriebenen aus dem Sudetenland, in das ehemalige Lager. Hier waren die Vertriebenen unter sich. Menschen aus der Umgebung kamen jedoch zur Arbeit und auch zu Festen. Das Foto zeigt Frau Holtsche in der stillgelegten Kunstblumenfabrik, wo sie gelegentlich gearbeitet hat. In einem Gebäude, das Displaced Persons 1946 als Synagoge genutzt hatten, nahm die Fabrik 1948 als eine der ersten im Lager die Arbeit auf. Die Familie Lumpe war ursprünglich nach Thüringen in der sowjetischen Besatzungszone vertrieben worden und hatte dort bereits wieder eine Kunstblumenfabrik aufgebaut. Als sie in ihrer neuen Heimat aber enteignet wurden, beschlossen sie, noch einmal zu fliehen.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 7), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Wallfahrtskirche Maria Hilf, Trutzhain, 11.03.2017.

1964/65 wurde die Trutzhainer Kirche Maria Hilf in Form eines Zeltes errichtet. Die Heimatvertriebenen aus dem Sudentenland hatten schon früher die Quinauer Wallfahrt an ihren neuen Heimatort, das ehemalige Kriegsgefangenenlager STALAG IX A Ziegenhain überführt. Die ursprüngliche Wallfahrt geht zurück auf ein legendäres Ereignis, das sich 1342 in der Nähe von Quinau im Böhmischen Erzgebirge zugetragen haben soll. Für die Wallfahrt in Trutzhain wurde eine Marienstatue geschnitzt und mit Brokat aus der ortsansässigen Weberei Rudolf Egelkraut eingekleidet. Anfangs wurde die Figur in einer Prozession von Neukirchen nach Trutzhain getragen. Doch verschärfte dies konfessionelle Konflikte zwischen Vertriebenen und örtlichen Einwohnern.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 8), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 66.7 x 100 cm.

Friedhof Treysa, Schwalmstadt, 13.11.2016.

Heimatvertriebene aus dem Sudetenland und Westpreußen nehmen am Kreuz des Ostens auf dem Friedhof von Treysa zusammen mit Einwohnern aus Hessen teil an der Enthüllung einer Gedenktafel für die deutschen zivilen Opfer während und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_9

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 9), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Friedhof Treysa, Schwalmstadt, 13.11.2016.

Feier beim Ehrenmal auf dem Friedhof in Treysa, Schwalmstadt, am Volkstrauertag. Die zahlreichen Inschriften auf dem Gedenkstein verewigen die Namen von Gefallenen und nennen die Jahre des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Die hauptsächliche Inschrift lautet: "Den Toten beider Weltkriege".

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_10

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 10), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Friedhof Treysa, Schwalmstadt, 13.11.2016

Am 30. November 2016 wurde eine zweite Bronzeplatte am Kreuz des Ostens auf dem Friedhof von Treysa, einem Ortsteil von Schwalmstadt, enthüllt. Das Kreuz ist eines von mehreren hundert Vertriebenendenkmalen auf Bergen und Friedhöfen in ganz Deutschland. Es wurde 1950/51 errichtet, und die Aufschrift der ersten Bronzetafel von 1987 lautet: "Zur Erinnerung an die Flucht und Vertreibung 1945. Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung." Die zweite Platte wurde auf Betreiben von Horst Gömpel, Marianne Wawrauschek und Adolf Lauscher mit Unterstützung der Stadt Schwalmstadt angebracht.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_11

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 11), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 60 x 40 cm.

Friedland-Gedächtnisstätte, Friedland, 13.11.2016.

Die Friedland-Gedächtnisstätte besteht aus vier jeweils 28 Meter hohen Betonscheiben. Zwölf Tafeln nennen dort weniger die Gründe für den Zweiten Weltkrieg als vielmehr sein Ergebnis; es werden fast nur deutsche Opfer berücksichtigt. Die Tafeln, die den Vertriebenen und Deportierten gewidmet sind, tragen folgenden Text: "Vertrieben wurden nach 1945 aus der Heimat ostwärts der Oder/Neiße und des Böhmerwaldes, aus Osteuropa und aus Südosteuropa 15.000.000 Deutsche." – "Verschleppt wurden in die Weiten des Ostens 1944–47 1.000.000 deutsche Zivilpersonen, darunter Frauen und Kinder." – "Opfer der Vertreibung mehr als 2.000.000 unschuldige Menschen, auf den Straßen elend gestorben, umgekommen aus Erschöpfung, durch menschliche Gewalt." – "Völker versöhnt euch!" Beim Jahreswechsel 1967/68 haben unbekannte Aktivisten "Dachau" und "Lidice" auf zwei der Tafeln geschrieben.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_12

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 12), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 26.7 cm.

Friedhof Guxhagen, 11.03.2017.

Die Aufnahme der Heimatvertriebenen in kleinen Dörfern und Städten zog nicht nur einen deutlichen Anstieg der Einwohnerzahl, sondern auch einen Zustrom von Kirchenmitgliedern nach sich. Die meisten Heimatvertriebenen aus dem Sudetenland hingen dem katholischen Glauben an. Daher wuchs zum Beispiel die katholische Gemeinde von Melsungen in den Nachkriegsjahren von 300 auf 6.000 Mitglieder. Zu dieser Gemeinde gehört die Michaelskirche in der Sudetenstraße in Guxhagen; sie wurde auf Anregung katholischer Vertriebener gebaut. Auf dem waagerechten Balken des Gedenkkreuzes, das 1952 beim Eingang zum Guxhagener Friedhof aufgestellt wurde, heißt es: "Den Toten in der Heimat."

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 13), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 26.7 cm.

Friedhof Neukirchen, 25.03.2017.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden fast 10'000 Menschen aus dem Sudetenland im Kreis Ziegenhain (heute Schwalm–Eder–Kreis) in Nordhessen angesiedelt. Die Inschrift auf der Steintafel hinter dem Gedenkkreuz lautet, "Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Pflicht. 1950. Die Heimatvertriebenen im Kreis Ziegenhain."

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 14), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 26.7 cm.

Friedhof Besse, Edermünde, 25.03.2017.

Bis nach 1949 war es Heimatvertriebenen untersagt, politische Verbände oder Parteien zu gründen. Vor allem die amerikanische Militärregierung befürchtete eine Radikalisierung der Vertriebenen, da diese gegenüber der einheimischen Bevölkerung sozial und wirtschaftlich benachteiligt waren. Auch wurde versucht, durch die Verteilung von Vertriebene soziale Beziehungen zu unterbrechen. Mit Nachlassen des Drucks aber wurden erste überregionale Verbände gegründet, die zu Beginn der 1950er Jahre drei bis vier Millionen Mitglieder zählten. Die "Charta der deutschen Heimatvertrieben" erklärte im August 1950, "Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung." Die Inschrift hinter dem Gedenkkreuz auf dem Friedhof in Besse, einem Ortsteil von Edermünde, lautet: "Zum Gedenken an die Toten der Heimat. Die Vertriebenen der Gemeinde Besse. Ostern 1981".

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_15

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 15), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Reinhard Besse, Kassel, 27.04.2017.

Reinhard Besses Mutter kam 1945 oder 1946 aus der Gegend um Frankfurt/Oder in Hessen an. Wahrscheinlich ist sie den ganzen Weg zu Fuß gegangen. Mitgebracht hatte sie nur einige Papiere. Herr Besse nimmt an, dass seine Mutter auf der Flucht von sowjetischen Soldaten vergewaltigt wurde. Die Bewohner des Dorfes, wohin sie geschickt worden war, begegneten ihr mit Misstrauen. Sie war mit nichts gekommen und hatte den Sohn des Bauern geheiratet. Auch unterstützte sie andere Flüchtlinge und sprach keinen Dialekt. Zu Beginn der 1970er-Jahre hat Frau Besse ihr früheres Zuhause besucht und wurde von den Polen hereingebeten, die nun dort lebten. Diese Leute wiederum waren aus dem Ostteil des Landes vertrieben worden, als dieser zur Sowjetunion kam. Herrn Besses Mutter hat nie daran gedacht, ihren Besitz zurückzuerhalten. Sie sagte, das wäre ein Grund für den nächsten Krieg.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 16), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Ellie Rosa und Otto Renner, Fritzlar, 09.11.2016.

In seinem Wohnzimmer macht Otto Renner vor, wie Sudetendeutsche nach dem Fall von Nazi-Deutschland von tschechischen Bewaffneten gequält wurden. In zwei Hotels seines Heimatortes zwangen sie die Menschen, sich nahe an die Wand zu stellen, und schlugen sie dann auf den Hinterkopf. Herr Renner sprach auch über Exekutionen von Menschen deutscher Herkunft, von denen er durch einen Kollegen gehört hat. Das Foto neben ihm zeigt seine "Vorfahren"; es ist das Hochzeitsbild seiner Eltern. Auf dem anderen Foto ist sein Urgroßvater mit dessen Familie zu sehen – sie waren noch österreichisch–ungarische Untertanen. Herr Renner sagte, seine "Heimat" sei das Riesengebirge, während er in Fritzlar, einer Stadt in der Nähe von Kassel, "zu Hause" sei.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 17), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Ellie Rosa und Otto Renner, Fritzlar, 09.11.2016.

Dokumente zu Otto Renners Vergangenheit im Sudetenland: Der Ahnenpass wurde von den Nazibehörden nach dem Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich im Jahr 1938 ausgegeben. Er war notwendig, um eine "arische" Herkunft nachzuweisen. Das Dokument auf Tschechisch diente als Identitätsnachweis, nachdem die Sudetendeutschen die deutsche Reichsbürgerschaft verloren hatten. Der handschriftliche Text ist Herrn Renners Abschrift einer Bekanntmachung von Soběslav I., Herzog von Böhmen (ca. 1075–1140), mit der dieser den deutschen Siedlern in Böhmen Schutz zusicherte und das Recht, ihre eigene nationale Identität beizubehalten.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 18), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Türkan und Mustafa Defterli, Kassel, 03.11.2016.

Pure Not zwang Mustafa Defterli dazu, seine Heimatstadt Erzurum in Ost-Anatolien mit dreizehn Jahren zu verlassen. Er ging nach Istanbul, um eine Malerlehre anzufangen. 1961 heiratete er in Erzurum, seine Frau Türkan kam mit ihm nach Istanbul. Aus Neugierde und Abenteuerlust bewarb er sich um eine Stelle als Gastarbeiter. 1965 reiste er im Zug nach München und kam von dort nach Kassel, wo er bei einem Maler zu arbeiten begann. Herr Defterli aß zum ersten Mal Schweinefleisch und konnte sich kaum verständigen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Defterlis zwei kleine Töchter. 1968 kam seine Frau mit den beiden Kindern nach Kassel, wo zwei weitere Kinder, ein Junge und ein Mädchen, geboren wurden. Herr Defterli zeigt Fotos, die bald nach seiner Ankunft gemacht wurden, einen Umschlag mit Hochzeitsbildern und eine Rentenversicherungs-Bescheinigung.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 19), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Ellie Rosa und Otto Renner, Fritzlar, 09.11.2016.

Otto Renner wurde in Spindlermühle im Sudetenland geboren und war fünfzehn Jahre alt, als er zusammen mit seinen Großeltern vertrieben wurde. Am 6. März 1946 wurden sie in Hohenelbe in einen Viehwagen geladen (30 Personen pro Waggon, 40 Waggons pro Zug) und am 10. März in Gemünden (Landkreis Waldeck–Frankenberg) wieder ausgeladen. Seine Eltern und Geschwister hatten sozialistische Neigungen und wurden in einem "privilegierten antifaschistischen Transport" in die Sowjetische Besatzungszone geschickt. Nach der Ankunft fand sein Großvater Arbeit; er musste ein Munitionslager ausräumen. Herr Renner meint, dass die Munition nach Frankreich geschickt wurde, und deutet an, sie könnte in den französischen Kolonialkriegen eingesetzt worden sein. Auf dem Foto zeigt Herr Renner die Fahne des Sudetenlandes.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 20), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Gerda Stock, Trutzhain, 25.03.2017.

Das Foto zeigt Gerda Stock im Keller ihres Hauses in Trutzhain, wo sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters eine Heißmangel betreibt. 1945 hatte der Hausbesitzer in Schlesien ihre Mutter und drei Kinder mit auf die Flucht genommen; ihr sechs Wochen alter Bruder verhungerte unterwegs. Ihre Großmutter blieb mit zwei Geschwistern der Mutter zurück; der Großvater wurde erschossen, da er kein Polnisch sprach. Die Flucht endete zunächst in Halle, in der Sowjetischen Besatzungszone, wo die Familie bis 1949 blieb. Frau Stock erinnert sich an ihren Schrecken, als sie schließlich Trutzhain erreichten: "Nicht schon wieder ein Lager!" Die Gemeinschaft unter den Vertriebenen, die Verdienstmöglichkeiten und das Gefühl von Freiheit haben schließlich bewirkt, dass Frau Stock weiterhin in Trutzhain lebt. "Wir haben uns hier ein neues Zuhause geschaffen."

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 21), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Carmen Rivas Bouzón, Sebastian Pérez Furest und Michéle Pérez Rivas, 16.11.2016.

Erundina Bouzón Couñago kam 1960 aus Vigo nach Lippstadt. Ein Jahr später folgte ihr Mann. In Vigo hatte Frau Couñago für zwei Peseten in einem Hotel gearbeitet und Schweine gezüchtet. Die gemeinsame Tochter Carmen wurde in Kassel geboren und sprach kein Spanisch, musste aber mit der Familie nach Spanien zurückkehren, als der Vater krank wurde. Sie kam auf eine Klosterschule. Mit vierzehn Jahren kehrte sie nach Kassel zurück, sprach aber kein Deutsch mehr. Nach dem Tod des Vaters begann die Mutter in einem Kasseler Krankenhaus als Reinigungskraft zu arbeiten. Dort hatte sie ein Zimmer, eine Zeitlang gemeinsam mit ihrer Tochter. Carmen Rivas Bouzón meint, sie habe zwei Heimaten, so wie man zwei Eltern hat. Das Bild zeigt einen Brief von ihrer Schwester Rosa, in dem sie von ihren Heiratsplänen berichtet. Neben dem Brief liegt das Hochzeitsbild eines Verwandten.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 22), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Ingrid und Dietmar Pfütz, Kassel, 04.11.2016.

Dietmar Pfütz ist in Niklasdorf im Sudentenland geboren. 1946, im Alter von vier Jahren, wurde er zusammen mit seiner Mutter und mehreren Verwandten nach Westen vertrieben. Der Bauer, der sie aufnehmen musste, war unfreundlich, und die Einheimischen nannten sie Zigeuner. 1947 kam sein Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, und 1956 bauten seine Eltern ein eigenes Haus. Schließlich wurde Herr Pfütz Kreisvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft, einem einflussreichen Vertriebenenverband. "Wir können vergeben, aber nicht vergessen." Herr Pfütz sagt, dass er zwei Heimaten hat: das Altvatergebirge seiner Herkunft und Nordhessen. Er ist mehrfach wieder in seinem Heimatdorf gewesen und beteiligt sich an Dialogen zur Versöhnung mit den tschechischen Verantwortlichen und heutigen Bewohnern seines Geburtsortes.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 23), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Marlene und Horst Gömpel, Schwalmstadt, 08.11.2016.

Seit mehreren Jahren setzen sich Horst und Marlene Gömpel dafür ein, die Erinnerung an das Leiden deutscher Zivilpersonen während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu bewahren – besonders im Hinblick auf das Schicksal von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen –, und zugleich auch die Leistung der einheimischen Bevölkerung anzuerkennen. So haben sie beispielsweise eine Dokumentation zur Vertreibung der Deutschen aus dem Sudentenland und deren Ankunft in Nordhessen veröffentlicht und die Anbringung von Gedenktafeln an mehreren Orten initiiert. Als Kind wurde Frau Gömpel zusammen mit ihrer Familie aus Reischdorf bei Komotau im Sudetenland vertrieben; das Dorf gibt es nicht mehr. Herr Gömpel stammt aus Hessen. Frau Gömpel sagt, sie habe zwei Heimaten, eine alte und eine neue.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 24), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 66.7 x 100 cm.

ÄnderungsSchneiderei, Kassel, 09.03.2017.

Bülent Kocabay besitzt eine Änderungsschneiderei in Kassel, die 1982 von seinem Vater gegründet wurde. Der Vater war zu Beginn der 1970er-Jahre als Gastarbeiter aus Istanbul gekommen, doch ursprünglich sind seine Mutter und sein Vater aus Anatolien. Heute leben seine Eltern die meiste Zeit in der Türkei, kommen aber regelmäßig wieder nach Kassel. Herr Kocabay sagt, dass er sowohl in der Türkei als auch in Deutschland zu Hause sei. Aber "Diskriminierung zerstört dich" fügt er hinzu und verweist auf Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit und Türkenhass. Er muss in Deutschland leben, weil er hier seine Arbeit und sein soziales Umfeld hat, würde aber zurück in die Türkei gehen, wenn alles schiefgeht. Allerdings müsste er dort wieder bei null anfangen. Herr Kocabay ist Mitglied der Kasseler Stadtmoschee und der neuen Migrantenpartei Allianz Deutscher Demokraten (ADD).

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 25), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 66.7 x 100 cm.

FERTOURS Travel Agency, Kassel, 13.03.2017.

Riza Osmanaj im Büro von FERTOURS Travel Agency, dem Busunternehmen, das er zusammen mit seinem Sohn Korab führt. Der Vater von Herrn Osmanaj, Mehmet, kam 1972 vom Kosovo nach Kassel und arbeitete bei Mercedes. Da er davon ausging, er würde nach ein paar Jahren zurückkehren, ließ er seine Frau und die drei Kinder zu Hause. Riza studierte im Kosovo Landwirtschaft und nahm Deutschunterricht, bevor er 1994 nach Kassel zu seinem Vater kam. Einer seiner Brüder blieb im Kosovo, der andere emigrierte nach Texas. Mehmet Osmanajs Frau kam erst Mitte der 1990er-Jahre nach Kassel, nachdem ihr Mann in Rente gegangen war.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 26), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 66.7 x 100 cm.

Türkischer Rentnerverein Emekder, Kassel, 17.03.2017.

Vahiddin Oğuz, Präsident des türkischen Rentnervereins Emekder, trifft einen Besucher in seinem Büro. Das Foto hinter ihm zeigt Kemal Atatürk. Der Verein ist ein Treffpunkt für türkische Rentner und bietet Beratung in allen Verwaltungsfragen an, vor allem bei Rentenangelegenheiten. Beraten werden Türken, Rumänen, Bulgaren, die meisten von ihnen aus Bettenhausen. Herr Oğuz wurde in der Türkei als Lehrer für Sport und Mathematik ausgebildet und nahm 1969 die Stelle eines Türkischlehrers an einer Grund- und Hauptschule in Kassel an. Er erinnert sich, dass ihm ein Türke gesagt hat, "Geh zur Zigeunerstraße", als er seine erste Wohnung suchte. Gemeint war die Oestmannstraße. Über die Nordstadt sagt Vahiddin Oğuz: "Sie wird immer besser."

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 27), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 66.7 x 100 cm.

Rathaus Kassel, 03.03.2017.

Die Anwesenheit von Murat Çakır als Übersetzer bei der Trauung von Çiğdem Yalcin und Göksel Akgül im Kasseler Rathaus ist notwendig, da der Bräutigam aus Izmir kein Deutsch spricht. Die jungen Leute haben einander während der Ferien der Braut in der Türkei kennengelernt und sich entschieden, ihr gemeinsames Leben dort zu beginnen, wo Ms. Yalcin zu Hause ist. Herr Akgül wird in Kassel in der Werbeagentur des Brautvaters arbeiten. Für Murat Çakır ist dieses Foto von der Trauung deshalb wichtig, weil die Anwesenheit eines Übersetzers dokumentiert, dass trotz aller politischen Leugnung Deutschland seit Langem ein Einwanderungsland ist. Der Brautvater Hüseyin Yalcin gehört zur zweiten Generation von Gastarbeitern. Die Trauzeuginnen heißen Jessica Seitz und Senem Korkmaz.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 28), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 66.7 x 100 cm.

El Torito—Spanische Spezialitäten, Kassel, 08.03.2017.

Maria Dolores Sabates Juliana kam 1973 aus Barcelona. Ihr Ehemann Adolfo Suarez war schon früher von Madrid aus nach Kassel gezogen. Er arbeitete als Gastarbeiter bei VW. Seine Frau Juliana wurde Spanischlehrerin und gab privaten Nachhilfeunterricht. 1999 eröffnete sie ihren Laden auf der Holländischen Straße. Herr Suarez ging 2009 in Rente.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 29), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Clubhaus, FC Bosporus Kassel, 27.02.2017.

Bek Engin, Hasan Karaçam, Süleyman Gül, Kazim Gül und Ismet Samed feiern im Clubhaus des FC Bosporus Kassel. Was sie verbindet, ist die Leidenschaft für den Fußball. Der ersten Generation fehlte auf der einen Seite die Kenntnis der deutschen Kultur und Sprache, auf der anderen Seite litten sie unter Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus. Alles zusammen machte die Integration schwierig und weckte den Wunsch, es der nächsten Generation leichter zu machen. Der Club wurde 1980 als internationalistisches, vielfältiges soziales Projekt gegründet. "Sport war ein Mittel zum Zweck", sagt der Gründungspräsident des Clubs, Murat Çakır. Von Anfang an wurden Diskussionen über Politik und Religion unterbunden, um mit einem möglichst breiten Spektrum von Jugendlichen in Verbindung zu bleiben.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 30), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Café Zanetti, City Point, Kassel, 13.03.2017.

Ende der 1970er-Jahre hatte die griechische Gemeinde einen Treffpunkt im Kulturzentrum Schlachthof. Dieser löste sich aber auf, als in der ökonomischen Krise der 1980er-Jahre viele Industriearbeiter nach Griechenland zurückkehrten. Heute treffen sich mehrere griechische Rentner regelmäßig vor dem Mittagessen im Café Zanetti im City Point. Herr Filippos (in der Mitte rechts) kam 1960 nach Deutschland. Neben ihm sitzt Rigas Dimitrios, Geschäftsführer eines griechisch-deutschen Restaurants, seit Anfang der 1980er-Jahre in Kassel. Die beiden werden von Maria und Nikos Abadzianis flankiert, Angehörige einer jüngeren Generation. Herr Abadzianis kam 1972 an, und seine Frau Maria ist seit 1995 in Kassel, wo sie sich auch kennengelernt haben. Deutschland und Griechenland verbunden zu sein, heißt, an zwei Orten ein Zuhause zu haben.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 31), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Club Juvenil, Kassel, 04.03.2017.

Die Ölkrise von 1973 war für die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter der ersten Generation ein Wendepunkt: Viele holten ihre Kinder und Partner beschleunigt nach und so entstanden neue soziale, politische und kulturelle Bedürfnisse. Daher wurde 1974 der Club Juvenil (Jugendclub) gegründet. Später war der Club unter den Initiatoren des Kulturzentrums Schlachthof, auf dessen Gelände er seit 1978 seine Räume hat. Der Club steht Angehörigen der spanischen Gemeinde und Sympathisanten offen. Zusätzlich zu regelmäßigen Treffen organisiert der Club Juvenil auch Kulturveranstaltungen. Anfangs war der Club vor allem nötig, um der Diskriminierung der jungen Einwanderer etwas entgegenzusetzen, heute trägt er zur Integration ihrer Kinder bei. Auf dem Foto sind Antonio Alejos, Sebastian Pérez Furest, Juan Locano Marthena und Francisco Pérez Furest zu sehen.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


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Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 32), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Cem Evi, Kassel, 28.02.2017.

Das Cem Evi nahe der Kasseler Innenstadt ist das Haus der Alevitischen Glaubensgemeinschaft. Für die Aleviten bewirkte die Emigration nach Europa eine Befreiung von der religiösen und politischen Benachteiligung durch die sunnitisch geprägte Majorität in der Türkei. Das Cem Evi hat einen Gebetsraum und eine Bibliothek; der Raum für Rentner ist den Männern vorbehalten, während sich Männer und Frauen andere Räume teilen. Im Cem Evi werden Seminare und Kurse angeboten, im Monat Muharrem wird in den Vereinsräumen gemeinsam gefastet. Hier kann die Beschneidungsfeier, der traditionelle türkische Polterabend oder auch das Beerdigungsritual stattfinden.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_33

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 33), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Nesrin Studio für Kopfhaut- und Haarpflege, Kassel, 01.03.2017.

Murat Çakır mit seiner Mutter, Necla Çakır, vor dem Friseursalon seiner Frau. 1970 folgte Murat seinem Vater, der 1967 als Gastarbeiter nach Kassel gekommen war. "Mit zehn habe ich alles allein gemacht", sagt er. Seine Mutter kam 1971, seine Brüder ein Jahr später. Er aber kehrte in die Türkei zurück und machte dort sein Abitur. 1979 trat er der türkischen KP bei, studierte später in Deutschland, wurde Übersetzer und Bauträger und machte Bankrott. 2004 war Herr Çakır Gründungsmitglied der WASG (Wahlalternative Arbeit und soziale Ge-rechtigkeit), 2017 kandidierte er für Die Linke für das Amt des Oberbürgermeisters von Kas-sel. "Meine Heimat", erklärt Murat, "sind meine Frau, meine Freunde, mein soziales Um-feld. Mein Vaterland ist die Erde, meine Nation die Menschheit." Er bezeichnet sich als In-ternationalist und Kosmopolit und zugleich als Lokalpatriot.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_34

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 34), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 66.7 x 100 cm.

FC Bosporus Kassel, 05.03.2017.

Der Fußballclub FC Bosporus Kassel wurde 1980 von türkischen Gastarbeitern gegründet. Der Name "Bosporus" lässt sich leicht aussprechen, symbolisiert die Beziehung des Clubs zu seinen Wurzeln und bezieht sich auf eine Brücke zwischen der Türkei und Europa. Das Bundesinnenministerium unterstützt den Club im Rahmen des Programms Integration durch Sport. 2016 stieg der Club in die Verbandsliga auf und kämpft nun darum, seine Position zu halten und die Zahl der Mitglieder zu vergrößern. Auf dem Foto zu sehen sind die Spieler Ismet Yegül (Türkei), Nima Latifiahvas (Iran), Ugur Kahraman (Türkei), Abdullah Alidrisi (Libyen), Omar Bayoud (Libyen), Mirko Tanjic (Kroatien), Nihat Cemali (Türkei) und Kai Steinert (Deutschland).

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_35

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 35), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Kroatische katholische Mission, Elisabethkirche, Kassel, 14.04.2017.

Das Foto zeigt Andelko Dopar, Davor Juričić und Luka Pavić in der Elisabethkirche in Kassel bei einem Gottesdienst der Kroatischen Mission. Herr Juričić ist in Hagen geboren, wuchs aber in Kroatien auf, bis sich seine Familie 1988 entschloss, nach Deutschland zurückzukehren. Da war er sechzehn Jahre alt. Luka Pavić, ebenfalls in Deutschland geboren, stammt in der dritten Generation von einem Gastarbeiter ab. Der katholische Gottesdienst bietet die Möglichkeit, Traditionen von Gesang und Gebet zu wahren und die eigene Sprache zu sprechen. "Majka Božja Marija, die Mutter Gottes, wird als die Mutter der kroatischen Nation angesehen", sagt Herr Dopar. Er kam mit fünfundzwanzig Jahren nach Kassel zu seiner Frau, die von hier stammt, aber ihre Wurzeln im ehemaligen Jugoslawien hat.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_36

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 36), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Türkischer Rentnerverein Emekder, Kassel, 17.03.2017.

Ekrem Öztatlı, Metin Baykan, Necmeddin Tunalı, Feridun Kahraman und Yahya Bağrıaçık bereiten sich in einem Nebenraum des Rentnervereins Emekder auf das Gebet vor. Dieser Raum wird auch als Bibliothek benutzt. Vorzugsweise wird nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen Gläubigen gebetet. Herr Kahraman (in der Tür stehend) kam als Gastarbeiter nach Deutschland und war hier als Schuhmacher und Bauarbeiter beschäftigt. Er hat den Koran studiert und war vor seinem Weggang von Zuhause Muezzin in einer Moschee. Wenn andere Betende ihn darum bitten, kann er die Funktion des Imam beim Gebet übernehmen.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_37

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 37), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Griechisch-orthodoxer Gottesdienst, Alte Brüderkirche, Kassel, 19.03.2017.

Infolge des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Griechenland sind seit 1960 Menschen aus verschiedenen Gegenden Griechenlands nach Kassel gekommen. 1963 wurde die Griechisch-Orthodoxe Metropolie in Deutschland gegründet, eine griechisch-orthodoxe Diözese, die dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel untersteht. Dadurch ist es seit 1965 möglich, jeden dritten Sonntag im Monat in der Alten Brüderkirche eine orthodoxe Liturgie zu feiern. Daneben haben sich seit Mitte der 1960er-Jahre verschiedene Orte für soziale, kulturelle und politische Begegnungen entwickelt.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_38

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 38), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Kroatische katholische Mission, Elisabethkirche, Kassel, 14.04.2017.

Luka Ćurić, Gabrijela Juričić, Marin Juričić, Danijel Bralo und Danijela Juričić nehmen am Gottesdienst in der Kasseler Elisabethkirche teil. Die meisten ihrer Großeltern kamen in den 1970er-Jahren nach Kassel. Herr Juričić und seine Frau, die Eltern von Gabrijela, Danijela und Marin, sorgen zu Hause und in der Schule für eine zweisprachige Erziehung ihrer Kinder. Vor den fünf Ministranten steht Josip Matuzović. Er emigrierte 1993 mit seiner ganzen Familie nach Kassel, um dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien zu entkommen. Seine Frau Ana ist in Berlin geboren und stammt in der zweiten Generation von einer Gastarbeiter-Familie mit bosnischen Wurzeln ab. Gemeinsam sorgen sie dafür, dass ihre drei Kinder mit kroatischen Traditionen vertraut sind.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_39

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 39), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 60 x 40 cm.

Türkischer Rentnerverein Emekder, Kassel, 17.03.2017.

Ein Besucher im Begegnungsraum von Emekder, der noch keine Rente bezieht. Die regelmäßigen Besucher des Vereins wissen, dass er ein Gastarbeiter der zweiten Generation ist, kennen ihn aber nicht gut. Als sie über seinen Vater sprechen, erwähnen sie, dass er in der Türkei begraben ist. Die DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) bietet an, den Körper eines Verstorbenen gegen einen jährlichen Beitrag von 50 bis 60 Euro an seinen Herkunftsort zurückzuführen. Auch einige von denen, die Deutschland zu ihrer neuen Heimat erklären, möchten in der Nähe ihrer Verwandten und Vorfahren bestattet werden.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_40

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 40), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 60 x 40 cm.

Türkischer Rentnerverein Emekder, Kassel, 17.03.2017.

Auf dem Foto an der Wand hinter dem Besucher im Begegnungsraum von Emekder ist Vedat Bilecen zu sehen, der den Verein im Jahr 1993 gegründet hat. Herr Bilecen kam 1973 als Gastarbeiter nach Hannover und zog später nach Kassel. Dort hat er bei VW gearbeitet und ging schließlich zusammen mit mehreren seiner Freunde in Rente. Als sie darüber nachdachten, was sie mit ihrer freien Zeit tun könnten, entschieden sie sich für einen Verein, der sich genau mit der Situation von Leuten wie sie selber beschäftigen sollte. Damals waren solche Vereine von Türken noch selten in Deutschland. Vahiddin Oğuz, der gegenwärtige Vorsitzende, wurde gebeten, die Satzung zu schreiben, weil er jemanden kannte, der für einen ähnlichen Verein in Hamburg verantwortlich war.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_41

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 41), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 26.7 cm.

Halitplatz, Nordstadt, Kassel, 28.04.2017.

Am 1. Oktober 2012 wurde zum Gedenken an Halit Yozgat, einem der Mordopfer des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes—NSU, der Halitplatz eingeweiht. Der Platz befindet sich vor dem südöstlichen Nebeneingang zum Kasseler Hauptfriedhof. Auf dem Platz wurden ein Straßenschild und eine Stele mit einer Gedenktafel aufgestellt. Das Mahnmal wurde im März 2013 mit schwarzer Farbe beschmiert und nach der Gedenkveranstaltung zum achten Todestag des Opfers mit einer schwarz-braunen Substanz übergossen. Die Familie des Ermordeten wünscht sich, dass die Holländische Straße, in der Halit Yozgat geboren und ermordet wurde, in Halit-Straße umbenannt wird.

"Neonazistische Verbrecher haben zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen in sieben deutschen Städten ermordet: Neun Mitbürger, die mit ihren Familien in Deutschland eine neue Heimat fanden, und eine Polizistin. Wir sind bestürzt und beschämt, dass diese terroristischen Gewalttaten über Jahre nicht als das erkannt wurden, was sie waren: Morde aus Menschenverachtung. Wir sagen: Nie wieder! Wir trauern um : Enver Şimşek, 11. September 2000, Nürnberg, Abdurrahim Özüdoğru, 13. Juni 2001, Nürnberg, Süleyman Taşköprü, 27. Juni 2001, Hamburg, Habil Kılıç, 29. August 2001, München, Mehmet Turgut, 25. Februar 2004, Rostock, Ismail Yaşar, 5. Juni 2005, Nürnberg, Theodoros Boulgarides, 15. Juni 2005, München, Mehmet Kubaşık, 4. April 2006, Dortmund, Halit Yozgat, 6. April 2006, Kassel, Michèle Kiesewetter, 25. April 2007, Heilbronn. Gemeinsame Erklärung der Städte Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund, Kassel und Heilbronn, April 2012."

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_42

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 42), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Neriman and Behçet Dinç, Kassel, 09.11.2016.

Neriman Dinç kam im Alter von vierundzwanzig als Gastarbeiter aus Istanbul und fand Arbeit bei der Pinselfabrik Kumpe in Mönchehof bei Kassel. Ihr Ehemann Behçet kam im Dezember 1973, arbeitete elf Jahre bei einem Gartenbaubetrieb und fing dann bei VW an. Beide sind jetzt Rentner. Auf dem Foto zeigt das Paar sein Verlobungsbild von 1967. Ihr erster Sohn wurde 1969 geboren und bei Verwandten in der Türkei gelassen. Das Kind hatte im Alter von fünf Jahren einen Unfall beim Spiel im Wasser und starb. Der Vater von Frau Dinç kam nach Kassel, um die schlechte Nachricht selbst zu überbringen. Er blieb einige Monate und fuhr wieder ab, ohne seiner Tochter etwas zu sagen. Ein Jahr später hatte sie ihr zweites Kind, das aber nach einem Monat starb. 1975 brachte sie einen weiteren Sohn, 1979 eine Tochter und 1986 wieder einen Sohn in Kassel zur Welt.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_43

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 43), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Klinikum Kassel, 20.03.2017.

1971 folgte Deolinda Lopes Marinho ihrem Ehemann José da Costa mit drei Söhnen nach Deutschland. Ihr zweites Kind, Manuel, blieb noch ein Jahr bei seiner Tante in Portugal, um die Schule abzuschließen. Herr da Costa war 1966 angekommen. Er zog nach Immenhausen bei Kassel und fing bei MEWA an, einem Textilunternehmen. Vier portugiesische Familien, die bereits in der Stadt lebten, hießen die Familie willkommen und gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit. Frau Marinho hatte verschiedene Tätigkeiten, kehrte aber nie in ihren ursprünglichen Beruf als Lehrerin zurück, was sie bis heute traurig macht. Während ihres langen Aufenthalts im Klinikum Kassel hatte Frau Marinho jeden Tag Besuch von ihren Söhnen. An ihrem 81. Geburtstag betrachtet Clara Sakić, eine Freundin, eine Zeichnung von Melina, einer Enkeltochter. Sie wird von Melinas Onkel Manuel gehalten.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_44

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 44), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Dilber and Can Saltik, Vellmar, 02.03.2017.

Dilber und Can Saltik sind Frau und Enkel von Ibrahim Saltik, der als Gastarbeiter von Istanbul aus nach Koblenz kam. Von dort ging er nach Rheinland-Pfalz und arbeitete bei Hochtief. In der Wirtschaftskrise von 1973 musste er eine neue Arbeit bei Ford in Köln annehmen. 1979 kamen seine ersten beiden Kinder nach Deutschland, und da er in Köln keine Wohnung fand, zog die Familie nach Kassel. Seine Schwester lebte bereits dort und arbeitete bei VW. Herr Saltik fand Arbeit bei Mercedes-Benz. Zunächst wohnten sie in der Arbeitergegend Nordstadt, dann zogen sie nach Vellmar und waren die ersten Migranten in dieser Nachbarschaft.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_45

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 45), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 26.7 cm.

Hortencia María Fragoso Filipe Miguel, Kassel, 21.03.2017.

Hortencia María Fragoso Filipe Miguel ist tief religiös und betet jeden Tag mehrere Male. Die meisten Figuren auf dem Altar in ihrem Zimmer hat sie von ihren Kindern und Enkelkindern geschenkt bekommen. Sie lebt in Kassel bei der Familie ihrer Tochter María Alzira Filipe de Jesus. Frau Miguel kam 1971 im Alter von siebenunddreißig nach Deutschland zu ihrem Mann, der schon ein Jahr zuvor angekommen war. Ihre Tochter erklärte, dass ihre Mutter und sie selber dort zu Hause sind, wo sich die Familie befindet. Sie fügte hinzu, dass ihr Mann, Juan Lozano Marchena, Kassel als seine Heimat betrachte, doch sein Herz gehöre dem Ort, wo er geboren wurde und wo seine Familie noch lebt, Algodonales in Andalusien. Herr Marchena kam im Alter von sechs Monaten mit seinen Eltern nach Deutschland und wuchs in Bettenhausen auf.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_46

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 46), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Feria de Abril, Club Juvenil, Kulturzentrum Schlachthof, Kassel, 23.04.2017.

Marija Levien bereitet ihre Tochter Stella Felicitas Levien auf die Teilnahme an einer Flamenco-Aufführung vor, zusammen mit anderen Kindern und ihrer Lehrerin, Maria Lopez. Frau Lopez führt die Tanzschule La Marivi, wo vor allem Kinder aus der dritten Generation spanischer Gastarbeiter, aber auch einheimische Kinder Flamencounterricht nehmen. Der gemeinsame Auftritt gehört zur Feria de Abril (Aprilfeier), die der spanische Club Juvenil (Jugendclub) jedes Jahr im Kulturzentrum Schlachthof organisiert. Außer Tanz und Musik werden den Besucherinnen und Besuchern Paella, Tapas und Wein angeboten.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_47

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 47), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

FC Bosporus Kassel, 09.03.2017.

Der Türkische Volksliedchor probt einmal pro Woche unter der Leitung von Haki Ayalp im Clubhaus des FC Bosporus, ist jedoch unabhängig von dem Fußballverein. Der Chor ist ein soziales Projekt, entstanden vor etwa einem Jahr auf Initiative der Beteiligten; das Singen bedeutet für sie, die Verbindung zur Kultur ihrer Herkunft zu wahren und diese weiterzugeben. Jeder beantwortet die Frage nach der Heimat anders. Aynur Gökdere fühlt sich in Deutschland nicht zu Hause; sie sieht die Türkei als ihre Heimat an. Aysun Şen ist mit achtzehn hergekommen, hat zwei Kinder und betrachtet Deutschland als ihre Heimat. Sie macht gern Ferien in der Türkei, vermisst dann aber immer Deutschland. Obwohl Senem Duman in Deutschland geboren wurde, ist ihre Heimat die Türkei.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_48

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 48), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Gemeindesaal Markuskirche, Kassel, 06.03.2017.

Im Gemeindesaal der Markuskirche organisiert der Verband der Siebenbürger Sachsen einen Kaffeenachmittag für ältere Menschen deutscher Abstammung, die aus Siebenbürgen emigriert sind. Sie singen Volkslieder, tauschen Erinnerungen aus und betrachten solche Treffen als sehr wichtig für den Erhalt ihrer ursprünglichen Kultur. Der Vorsitzende der Kreisgruppe Kassel, Michael Theuerkauf (2. von links), ging 1981 von Stolzenburg nach Kassel, da die deutsche Minderheit in Rumänien zunehmend unterdrückt wurde. Herr Theuerkauf hat jetzt seine Familie, seine Kinder und Enkelkinder in Deutschland, doch die für ihn bedeutende Kultur kommt aus Siebenbürgen. Nach dem Sturz von Ceaușescu hat er noch einmal den Hof seiner Eltern besucht. Die Familie, die inzwischen dort lebt, hatte nichts mehr daran getan, da sie fürchteten, die Deutschen würden zurückkehren.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_49

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 49), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Islamisches Gräberfeld, Westfriedhof, Kassel, 26.03.2017.

Seit 2014 kann der Leichnam eines Muslims auf dem Kasseler Westfriedhof in Süsterfeld-Helleböhn ohne Sarg bestattet werden. Um dies zu ermöglichen, musste das hessische Friedhofs- und Bestattungsgesetz geändert werden. Das Foto zeigt frische Gräber in der islamischen Abteilung des Friedhofs.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_50

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 50), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Nordstadt, Kassel, 23.03.2017.

Die Entwicklung der Kasseler Nordstadt entlang der Holländischen Straße ist eng mit der Industrialisierung Kassels im 19. Jahrhundert verbunden. Die Anbindung an das Eisenbahnnetz ermöglichte die Ansiedlung von bedeutenden Firmen wie das Schlachthaus, heute Kulturzentrum Schlachthof, oder – auf dem heutigen Gelände der Universität – das Textilunternehmen Gottschalk und die Firma Henschel & Sohn (sie bauten Lokomotiven und während des Zweiten Weltkrieges auch Panzer, Flugzeuge usw.). Zwischen die Industriebetriebe wurden Arbeiterviertel eingestreut. Mit dem Rückgang der Industrie in den 1970er-Jahren ersetzte eine neue Bevölkerungsgruppe von Immigranten die bisherige Arbeiterbevölkerung. Studenten und Immigranten veränderten ihrerseits die Infrastruktur der Nordstadt. Heute überwiegen hier die Läden von Immigranten, Bars und alternative Kulturorte.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_51

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 51), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

FC Bosporus Kassel, 23.03.2017.

Zu Beginn hatte der FC Bosporus Räume im Kulturzentrum Schlachthof und hieß Genclerbirligi (Union der Jugend). Aufgrund der linksgerichteten Neigung des Vorstandes wurde der Club aber des Kommunismus verdächtigt, und eine wachsende Anzahl von Eltern ließ ihre Kinder nicht mehr kommen. Also wurde beschlossen, den Schlachthof zu verlassen. Nachdem der Verein mehrmals in der Nordstadt umgezogen war, bürgten vor etwa zehn Jahren acht Spieler für einen Kredit, und der Club konnte das Clubhaus beim Nordstadtstadion kaufen. Zusätzlich zu den Räumen für den Sport gibt es dort Raum für Büros und soziale Aktivitäten.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_52

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 52), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 40 × 60 cm.

Mattenberg, Kassel, 21.03.2017.

In der Nazizeit wurden für die Kasseler Stadtteile Oberzwehren, Mattenberg und Nordshausen Mustersiedlungen geplant. Doch bis zu Kriegsbeginn konnten nur Teile fertiggestellt werden. Dort zogen vor allem Facharbeiter aus Westdeutschland ein. Ab 1940 wurde am Mattenberg eine Barackensiedlung für Zwangsarbeiter aus ganz Europa gebaut. 1945 beschlagnahmte die amerikanische Militärverwaltung die gesamte Siedlung, um die Wohnungen an Displaced Persons zu vergeben. Die deutschen Bewohner mussten innerhalb einer Stunde ihre Wohnungen verlassen. 1949 wurde die Siedlung wieder freigegeben, doch viele Wohnung blieben leer und verwahrlosten. In den 1960er-Jahren begannen Gastarbeiter, vor allem aus der Türkei, sich hier anzusiedeln. 2014 wurde nach langer sechsjähriger Bauzeit eine Moschee eingeweiht.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli


Heimat_53

Ahlam Shibli, Ohne Titel (Heimat Nr. 53), Nordhessen, Deutschland, 2016–17, C-print, 60 × 40 cm.

Kassel Merkez Camii, 24.02.2017.

Die Kasseler Stadtmoschee in der Nordstadt wird von einem Verein mit mehr als 200 Mitgliedern geführt, die monatlich 10 bis 20 Euro Beitrag zahlen. Zusätzlich wird bei festlichen Anlässen wie dem Ramadan und Eid al-Adha gesammelt. Die Moschee ist der Türkisch–Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) angeschlossen, die ihrerseits dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten untersteht, einer staatlichen Stelle mit Sitz in Ankara. Die DITIB schickt Imame zu den Moscheen und bezahlt ihre Gehälter. Außer dem Gebet bietet der Verein Kulturprogramme an wie einen Ausflug für ältere Mitbürger zur Wartburg, Koranunterricht auf Arabisch oder Ethikunterricht. Ein früheres Vorstandsmitglied des Moscheevereins unterstreicht die guten Beziehungen zur Stadtverwaltung ("Die lassen uns nicht draußen"), den Vertretern anderer Glaubensgemeinschaften und Schulen.

Courtesy die Künstlerin, © Ahlam Shibli